Sellrainer Berge, nicht Voralpen-Muggel, aber auch nicht Hochgebirge. Vier, fünf Seiten im Auswahlführer, bis anhin eher
desinteressiert überflogen. Was soll man schliesslich mit Weiss-, Gries- oder Fernerkögeln, wenn einem im gleichen Gebiet
ein Zuckerhütl, ein Schrankogel oder eine Ruderhofspitze zur Auswahl stehen! Wenn im nahen Ötztal so bekannte Gipfel wie
eine Wildspitze, eine Weisskugel oder ein Similaun locken ...
"Sellrainer Berge - das ist Musik für alle Tourenfahrer aus Müncher oder Innsbruck, das sind Skidreitausender, die zu den
schönsten der Alpen zählen, mit weiten, oft gletscherfreien Hängen, die guten Schnee bis in den April hinein garantieren"
lockt der Auswahlführer.
Tönt gut. Karten werden angeschafft, Unterlagen studiert, Routen ausgearbeitet, Möglichkeiten erwogen und wieder fallen
gelassen, schliesslich reift eine Tourenwoche und die Erkenntnis, warum man sich eigentlich nicht schon früher mit diesem
Gebiet beschäftigt hat ...
Wetterbericht: Die Herren von der meteorologischen Anstalt reden von einem Azorenhoch, das sich mit einem Hoch über Russland verbindet. Nur südlich der Alpen macht ein kleines Tief das Mittelmeer unsicher. Aussicht für Sonntag: da grinst eine volle, gelbe Sonne vor blauem Himmel. Aussichten bis zum kommenden Mittwoch: dieselbe Sonne vor demselben Himmel. Irgendwie beängstigend ...
Kühtai, eine Ansammlung von Skiliften und Hotels zuoberst im Sellraintal, empfängt uns mit angenehmen Temperaturen und
Strahlewetter. Nach einem kurzen Mittagessen stürzen wir uns ins Getümmel der Pistenfreaks und Snöber. Ein Sessellift
bringt uns hoch zur Dreiseen-Hütte und erspart uns so mindestens 300 Höhenmeter schweisstreibenden Aufstiegs. Dann folgt
eine infolge der fortgeschrittenen Tageszeit bereits langsam heikel werdende Traverse über Steilhänge und Felsstufen
hinüber zum Finstertaler Speicher. Entlang dieses Stausees brennt die Sonne besonders unerbittlich. Mit den vollgepackten
Tourenrucksäcken und den erst wenigen Skitouren dieses Winters in den Beinen fliesst der Schweiss in Strömen. Durst kommt
auf, ob man in Kühtai unten die Kehle nicht doch besser noch mit einem weiteren Bierchen genetzt hätte?
Erst in den schattseitigen Mulden hoch zur Finstertaler Scharte kommt Wind und Kühlung auf. Gegen drei Uhr ist die 2779
Meter hohe Scharte schliesslich erreicht, die Felle werden im Rucksack verstaut. Bei angenehmen Temperaturen lassen wir
die für uns neue Bergwelt auf uns einwirken. Rauhe, dunkle, formenreiche Gipfel und Grate aus Gneis- und Schiefermaterialien
türmen sich um uns. Dazwischen immer wieder langgestreckte Täler, weite, meist gletscherfreie Hänge.
So gegen vier Uhr stürzen wir uns schliesslich auf die Abfahrt. Tja, der liebe Schnee! Wie südseitige Hänge an einem warmen
Frühlingstag um vier Uhr nachmittags halt so sind - einfach nicht ganz das Wahre! Und die Osthänge sind mit einem besonders
gemeinen Winddeckel überzogen. Immerhin findet man vorab im oberen Teil ab und zu einige Meter Pulver und kann fünf, zehn
Schwünge in den Schnee zaubern ...
Ein jeder ist froh, als wir nach einer Stunde Abfahrt über weite, flache Kare und eine sehr steile, südwestseitige
Schlussstufe so gegen fünf Uhr die Gubener-Schweinfurter Hütte des DAV erreichen. Zimmerbezug, es gibt Betten, da wir
praktisch die einzigen Gäste sind.
Ein Bier gegen den Durst, Nachtessen, dann werden die Karten gewetzt. Wir sind zu viert. Schieber ist angesagt. Köbi und
Paul gegen Peter und mich. Die erste Runde gewinnen wir locker, dann aber, einmal eingespielt, ziehen uns Köbi und Paul
brutal das Fell über die Ohren. Heitere Aussichten für die kommenden Abende ...
Irgendwann nach acht Uhr stehen wir vor der gastlichen Hütte. Das Wetter präsentiert sich von seiner besten Seite,
wolkenloser, stahlendblauer Himmel, Sonnenschein. Zudem ist es kalt, etliche Minusgrade herrschen. In gemächlichem Tempo
zotteln wir das langgestreckte, sehr flache Zwieselbachtal hoch, dem Zwieselbachferner und dem gleichnamigen Joch entgegen.
Gegen Mittag rasten wir kurz unterhalb des Jochs. Ein böiger Wind geht und wirbelt die Schneekristalle in den wolkenlosen
Himmel. Zwei, drei vereinzelte Wolkenfähnchen bilden sich an einem Grat, belanglos. Der Wetterbericht ist ja gut.
Irgendwo auf der anderen Seite des Jochs müsste jetzt Heinz die südseitigen Hänge emporschwitzen. Wo werden wir ihn treffen?
Er musste wegen seiner Fussballwinkerei auf den ersten Tag verzichten und steigt heute von Gries aus zur Winnebachseehütte
auf. Je nach Kondition und Tageszeit will er uns anschliessend noch entgegenkommen ...
Am späten Mittag erreichen wir das Joch. Als gewaltiger Blickfang türmt sich der Breite Grieskogel vor uns. Felsstufen,
Gletscherbrüche und dazwischen eingelagerte, fast zur Piste ausgefahrene Steilhänge mit herrlichen Abfahrtsspuren.
Zudem kann der Rucksack kurz nach dem Joch deponiert werden. Klar, dass wir da noch hoch müssen!
Dann schweift der Blick südwärts, ins Herz der Stubaier Alpen. Hoppla, was ist denn da los? Nebelschwaden streichen aus den
Tälern, Wolkenfetzen treiben, irgendwo südlich der Alpen muss ein Tief böse am Anrennen sein.
Wir queren vom Joch hinüber zur von der Winnebachseehütte kommenden Aufstiegsspur. Kaum die Spur erreicht, ein Blick nach
hinten, das müsste doch? Richtig, er ist es! Ziemlich auf den Felgen zwar und schon mit Umkehrgedanken behaftet dackelt
Heinz daher. Er hoffte uns schon auf der Abfahrt vorzufinden! Rucksackdepot, dann machen wir uns an den restlichen
Gipfelaufstieg. Was von unten kurz und nicht allzu steilaussah, erweist sich dann doch noch als happiger Aufstieg.
Schliesslich stehen aber alle am Skidepot. Das Wetter hat zwischenzeitlich dichtgemacht, in einem kleineren Schneesturm
steigen wir die Felsen hoch zum 3287 m hohen Gipfel. Die Sicht lässt zu wünschen übrig, ein kurzer Gipfelpris im
Schneegestöber, dann machen wir uns wieder an den Abstieg. Es ist einfach zu kalt und ungemütlich für längeres Verweilen!
Das Depot erreicht, die Ski an die Füsse und nichts wie hinunter. Die Sicht ist nicht allzugut, die Hänge zwar steil, aber
gut ausgefahren. Den stiebenden Pulverschnee muss man sich allerdings denken; verlässt man die vorhandenen Spuren, helfen
meist nur noch Spitzkehren weiter. Alle Hänge sind nämlich mit einer zentimeterdicken Windharschkruste überdeckt ...
Über zuletzt flache Almböden erreichen wir gegen fünf Uhr die kleine Winnebachseehütte des DAV. Lagerbezug, dann ein Bier
gegen den Durst. Das erste Glas trinkt sich nur schleppend, zu ausgetrocknet ist die Kehle. Nachtessen, dann stürzen wir
uns wieder auf die Karten. Schieber ist angesagt, schliesslich müssen wir herausfinden, ob Peter oder ich der schlechtere
Schieberpartner ist ...
Fünfzehn Grad minus und Prachtwetter - so präsentiert sich die Lage, als wir nach acht Uhr vor die Hütte treten. Ein
verhältnismässig einfacher und ringer Hüttenübergang von grosser landschaftlicher Schönheit ist angesagt. Über weite,
flache Kare mit kurzen Zwischenstufen steigen wir hoch zum Winnebachjoch. Praktisch der ganze Aufstieg liegt im Schatten,
es ist dementsprechend kühl. Am Joch selbst ist die Suche nach einem geschützten Platz angesagt, es weht ein ziemlich
heftiger Wind.
Nach einer ausgiebigen Rast machen wir uns an den knapp einstündigen Aufstieg auf den 3185 m hohen Winnebacher Weisskogel.
Die Spur ist vereist, steil und zieht in lawinensicheren Gelände aufwärts. Dementsprechend mühsam ist vor allem der untere
Teil zu begehen, selbst mit Harscheisen. Vom Skidepot aus führt ein kurzer Fussaufstieg durch eine Rinne und über den
Nordgrat auf die Gipfelkuppe.
Gipfelpris, photografieren, die sich auftürmende Gipfelwelt (oder was man davon zwischen Wolken sieht) bewundern.
Wildspitze und Similaun kann man klar erkennen. Erinnerungen an die letztjährige Tourenwoche werden wach ...
Nach einer ausgiebigen Gipfelrast und dem kurzen Abstieg schnallen wir die Skier an die Füsse. Die Schneeverhältnisse sind
deutlich besser als an den Vortagen, im Gipfelhang liegt stiebender Pulver und in der Abfahrt zum Winnebachjoch findet man
hie und da sogar Stellen mit ausgezeichnetem Sulz. Vom Joch führt die Abfahrt über das riesige Ochsenkar hinunter zum
Westfalenhaus.
Dann überstürzen sich die Ereignisse. Erst soll Peter mit den Skiern fast einen Schneehasen überfahren haben. Mitbekommen
habe ich die Szene selbst leider nicht, nur das Tier gesehen, dass sich etliche Meter tiefer völlig verängstigt an einen
Stein geschmiegt hat ...
Dann, wie es halt so ist: ein herrlicher Tag, viele Abfahrtsspuren, eine eigentlich eindeutige Route, die Karte am Morgen
mal kurz überflogen - jedenfalls befinden wir uns auf gleicher Höhe mit der Hütte, nur ein Seitentälchen zuweit südwestwärts!
Klar, dass ich von den Kameraden betreffend Kartenlesen einige Kommentare über mich ergehen lassen muss ...
Was solls, Felle an die Skier und die viertelstündige Querung in Angriff nehmen. Kurz vor der Hütte kommen wir dafür in den
Genuss einer besonderen Darbietung. Nach einer kurzen Abfahrt mit Fellen in wegen Bruchharsch fahrerisch heiklem Gelände
zeigt uns Köbi einen perfekten Überschlag und findet sich einige Meter tiefer wieder. Peter, eigentlich gewarnt, kann die
Stelle auch nicht ganz einwandfrei meistern und bohrt sich kopfüber in den Schnee. Balsam für meine Seele! Stell Dir vor,
Peter, wir wären weiter oben richtig gefahren und wir hätten auf diese Einlagen verzichten müssen ...
Zimmerbezug, den Rest des Nachmittags verbringen wir mit Jassen, Studium von Karten, Führern und des herrlichen
Hüttenpanoramas. Dann Nachtessen - doch, heute gibt es sie wirklich, Köbi hat sie schon am Nachmittag in der Küche erspäht!
Knödel, diese weisse, teigige Masse, die sich nur mit viel Senf und Bier in den Magentrakt befördern lässt ...
Mit einigen Runden Jassen lassen wir schliesslich den Tag ausklingen.
Längentaler Weisser Kogel über dem Längental - herrliche Abfahrtsspuren in ideal geneigtem Gelände, strahlendweisse Hänge,
darüber dunkelblauer Himmel. So präsentierte sich die Tour am Vortag auf der Postkarte, die ich auf die Lagerreservierung
hin vom Pächter des Westfalenhauses erhalten habe.
Nun, einiges stimmt an diesem Bild nicht, als wir am frühen Morgen vor die Hütte treten. Schneehänge in blassem Weiss,
Nebelschwaden in blassem Grau und ein total überzogener Himmel in blassem Schwarz türmen sich vor uns. Das kann ja heiter
werden!
Nach einer Schrägabfahrt über etwa 80 Höhenmeter hinunter auf den Talgrund montieren wir die Felle und machen uns an den
Aufstieg. Der böige Wind hat alle Aufstiegsspuren vom Vortag fein säuberlich verwischt. Zudem ist die Sicht meist gegen
Null und die entstandenen Triebschneeansammlungen sind auch nicht ganz ohne.
Zum Auftakt besteht die Route aus einer Folge von Anhäufungen alten Moränenschutts und kleiner Tälchen, von denen man nie
richtig weiss, wohin sie führen und wo sie enden. Mit Erreichen der Längtaler Ferners wird die Orientierung einfacher. In
weiten Bögen ziehen wir den Gletscher hoch gegen das Längentaljoch, wo uns einige Tourenfahrer entgegenkommen. Sie sind von
der Amberger Hütte her aufgestiegen, ihnen ist das Wetter zu schlecht und sie fahren direkt hinunter zum Westfalenhaus.
Wir umgehen die dem Bachfallenkopf vorgelagerte Spaltenzone und quälen uns den immens steilen Gipfelhang hoch. Am frühen
Nachmittag stehen wir am Skidepot. Das Wetter hat sich keinen Deut gebessert, nur Heinz zieht es noch die wenigen Meter
hoch zum Gipfel. Der Rest unserer Gruppe zieht die einigermassen windgeschützte Rast am Skidepot vor.
Bald kurven wir wieder abwärts. Schade, dass die Sicht nicht besser ist und keinerlei Spuren liegen! So weiss man wirklich
nie recht, woran man ist, ob es vor einem jetzt aufwärts oder abwärts geht. Bei guten Verhältnissen müsste dies nämlich
eine traumhaft schöne Abfahrt sein!
Trotzt vorsichtiger Fahrweise hat jeder etliche Stürze hinter sich, bis wir den Talboden erreichen. Von dort mühen wir uns
wieder mit Fellen zur Hütte hoch. Diese ist deutlich besser belegt als am Vortag. Etliche Gruppen sind vom Lüsenstal her
eingetroffen. Dennoch finden wir problemlos Sitzplatz für Bier und Diskussion.
Nach dem Nachtessen der Blick ins Freie, das Wetter schaut gar nicht gut aus. Bei starkem Wind fällt Neuschnee. Der
Wetterbericht für den morgigen Tag ist auch nicht allzu verheissungsvoll. Aufhellungen, meint der Hüttenwart, aber wann
und wo, das könne er auch nicht sagen ...
Am Morgen ein Blick ins Freie: gegen fünfzehn Zentimeter Neuschnee, stürmische Winde und vereinzelte blaue Flecken am
Himmel. Den Übergang über die Zischgenscharte zur Pforzheimhütte, unserem letzten Ziel, können wir sowieso vergessen.
Eine riesige, meterhohe Wächte versperrt den Zugang zur Scharte. Vom zweiten möglichen Übergang rät bei den momentanen
Verhältnissen auch der Hüttenwart ab, die Lawinengefahr im Steilhang hinunter zum Gleirscher Ferner sei nicht zu
unterschätzen.
So machen wir uns im Lauf des Morgens auf die Abfahrt hinunter ins Lüsenstal und auf die Heimreise. Dem Bach entlang
schieben und stöckeln wir im dichten Nebel und Neuschnee in fast ebenem Gelände zur Längentaler Alm. Dort wird das Gelände
steiler, im Wald schwingen wir hinunter zum Fernauboden. Entlang einer Langlaufloipe erreichen wir schliesslich Praxmar.
Ein Taxi führt uns nach Kühtai, unserem Ausgangspunkt. Nach einem kurzen Abstecher nach Gries, wo Heinz sein Auto parkiert
hat, fahren wir über den Arlberg heimwärts.
Der Schnee nicht immer das, was man sich unter ungetrübtem Abfahrtsgenuss vorstellt. Wetter, das entgegen den Prognosen
nicht immer mitspielt, Heimreise einen Tag früher als geplant - im Nachhinein überwiegt dennoch wie meist das Positive:
herrliche Bergwelt, weite, einsame Täler, gemütliche, gastliche Hütten. Und vielleicht bewahrheitet sich folgender Satz,
den man in meinem alten Ostalpen-Skitourenführer lesen kann: Sellrainer Berge - wer einmal da war, wird wieder kommen ...
Herzlichen Dank zum Schluss jenen Kameraden, die mitgeholfen haben, diese Tourenwoche zu einem Erlebnis für alle werden zu
lassen:
Paul Kuhn, Heinz Müller, Peter Sonderegger und Köbi Wichser.
verfasst durch: Hanspeter Willi
Quelle: SCB-Infos Nr. 3/1995